Ein Klavierprojekt für Menschen mit Bewegungseinschränkungen

Die Mozart-Arznei

von Maria Goeth

8. November 2016

In München tüftelte ein engagiertes Forscherteam eine originelle Technik aus, um Menschen mit und ohne Einschränkung gemeinsam an die Tasten zu bringen.

Trotz spas­ti­scher Lähmung, Wahr­neh­mungs­stö­rungen oder Lern­schwie­rig­keiten ein echtes Klavier­kon­zert spielen? Klingt absurd. In München tüftelte ein enga­giertes Forscher­team eine origi­nelle Technik aus, um Menschen mit und ohne Einschrän­kung gemeinsam an die Tasten zu bringen und sie dabei auch noch ein biss­chen gesünder zu machen – mit verblüf­fendem Erfolg!

Wer sich zu Frau Prof. Dr. in die Kata­komben des Münchner Klini­kums rechts der Isar wagt, findet sich unver­mit­telt in einem spek­ta­ku­lären Kurio­si­tä­ten­ka­bi­nett: Die Requi­si­ten­kammer für einen neuen Star-Wars-Film? Ein Ersatz­teil­lager für mode­be­wusste Andro­iden? Überall liegen Hand­schuhe mit Drähten und Kabeln, die wie avant­gar­dis­ti­sche Robo­ter­hände wirken. Daneben farbig leuch­tende, trans­for­mierte E‑Pianos, eine mit Sensoren gespickte Jacke und eine Art futu­ris­ti­scher Körper­scanner. Seit einigen Jahren hat sich Prof. Lampe, die ursprüng­lich Ortho­pädin ist und nun die Markus Würth Stif­tungs­pro­fessur innehat, einem verdienst­vollen Ziel verschrieben: Sie möchte auf viel­fäl­tige Weise die moto­ri­schen Fähig­keiten von Menschen mit Bewe­gungs­ein­schrän­kungen verbes­sern, insbe­son­dere von Kindern mit soge­nannter „infan­tiler Cere­bral­pa­rese“ (ICP). Menschen mit ICP erlitten vor, bei oder kurz nach der Geburt Hirn­schä­di­gungen, etwa durch eine Infek­tion der Mutter während der Schwan­ger­schaft, durch Sauer­stoff­mangel oder durch Früh­ge­burt, und leiden infol­ge­dessen an mehr oder weniger stark ausge­prägten Bewe­gungs­stö­rungen: etwa Muskel­ver­kramp­fungen, unkon­trol­lierten Bewe­gungen von Händen und Füßen oder Koor­di­na­ti­ons­schwie­rig­keiten. Mit zwei bis drei Betrof­fenen pro 1.000 Geburten ist ICP gar nicht so selten. Prof. Lampe, die selbst begeis­terte Klavier­spie­lerin ist, hatte die Idee, in einem inklu­siven Projekt mittels Tasten­in­stru­menten die Fein­mo­torik von Menschen mit und ohne ICP zu schulen – und das idea­ler­weise mit einem großen Werk der klas­si­schen Musik.

„Mit zwei bis drei Betrof­fenen pro 1.000 Geburten ist ICP gar nicht so selten“

Aber wie sollte das funk­tio­nieren? Die Lösung schien simpel: Die Probanden sollten zusätz­lich zur offen­sicht­li­chen akus­ti­schen Kompo­nente sowohl optisch als auch senso­risch in ihrem Lern­pro­zess unter­stützt werden. Die Umset­zung verlangte einiges an Krea­ti­vität und tech­ni­scher Tüftelei. Als Ausgangs­punkt dienten soge­nannte „Leucht­tas­ten­pianos“ der Marke Casio: Bei ihnen blinken jeweils die Tasten eines vorher gespei­cherten Musik­stücks auf, sodass der Schüler sie auch ohne Noten­text erlernen kann. Da diese Instru­mente leider nicht mehr in vollem Klavier­um­fang mit 88 Tasten produ­ziert werden, entwi­ckelten Lampe und ihr Team Leucht­leisten, die zerlegbar und trans­por­tabel sind und sich unkom­pli­ziert auf jedes gängige Klavier aufste­cken lassen. Außerdem können diese Leisten mit unter­schied­lichsten Stücken bespielt werden, rufen also nicht nur ein einge­schränktes Werk­port­folio auf. Zusätz­lich wurden Hand­schuhe entwi­ckelt, die in jedem einzelnen Finger mit einem Vibra­ti­ons­motor ausge­stattet sind – ähnlich den Motoren, die sich übli­cher­weise in Handys finden. Gekop­pelt wurden sie mit einem „Lehrer­hand­schuh“. Spielte der Lehrer nun das Musik­stück vor, vibrierte es am entspre­chenden Finger des Probanden. So wusste der Tasten-Neuling, welchen Finger er zu benutzen hatte. Außerdem war die Akti­vie­rung des entspre­chenden Gliedes beson­ders für die Kinder und Erwach­senen mit ICP, die oftmals Schwie­rig­keiten haben, Finger über­haupt getrennt vonein­ander zu „erspüren“, sehr von Bedeu­tung. Die Grund­lage des Hand­schuh-Proto­typen bildeten trans­for­mierte, simple Golf­hand­schuhe, die ein beson­ders weiches Leder haben.

Als letzte Hilfe kam schließ­lich ein kleiner Bild­schirm dazu, der Noten auf Noten­li­nien in Buch­sta­ben­form tran­skri­biert. So wurde vor allem den Menschen ohne Noten­kenntnis das Lesen erleich­tert.

„Die Bewe­gungen wurden flüs­siger, synchroner, gleich­mä­ßiger“

Prof. Lampe lag die musi­ka­li­sche Qualität am Herzen, ein echtes Werk hielt sie für moti­vie­render als Kinder­lieder und einfache Spiel­stücke. So machte sich Diri­gent und Kirchen­mu­siker Guido Gorna daran, Mozarts berühmtes erstes Klavier­kon­zert d‑Moll für diesen Zweck zu arran­gieren – und zwar unter akri­bi­scher Beach­tung der Fähig­keiten jedes einzelnen Mitwir­kenden: Von komple­xeren Stimmen für gesunde Spieler bis hin zu Stimmen mit immer demselben zu spie­lenden Einzelton für Probanden mit schweren Lähmungen.

In wenigen Wochen erar­bei­teten sich so 25 Kinder und Erwach­sene mit und ohne Behin­de­rungen den voll­stän­digen ersten Satz des Konzerts, legten peu à peu die Trai­nings­hand­schuhe ab und luden zu einem ergrei­fenden Konzert in die Stif­tung ICP ein. Aber es kommt noch besser: Nicht nur hatten die Probanden eine Menge Spaß beim Projekt, Prof. Lampe und ihr Team konnten auch in verschie­den­ar­tigen Test­reihen nach­weisen, dass sich ihre Hand­be­weg­lich­keit merk­lich verbes­sert hatte: Die Bewe­gungen wurden flüs­siger, synchroner, gleich­mä­ßiger. Zudem offen­barte die Magnet­re­so­nanz­to­mo­grafie, dass sich der moto­ri­sche Cortex, also die für Bewe­gungen zustän­digen Hirn­areale, neu orga­ni­siert hatten. Nun bemüht sich das Team darum, dieses Schul­jahr Klavier­un­ter­richt für Inter­es­sierte als festes Angebot einer Körper­be­hin­der­ten­schule zu inte­grieren. Finan­ziert wurde das Projekt von der Friede-Springer-Stif­tung. Die wissen­schaft­li­chen Mitar­beiter von Prof. Lampe werden von der Buhl-Stroh­maier Stif­tung und der Stif­tung Würth finan­ziert.

Und sonst? Prof. Lampe schwirren schon eine Viel­zahl weiterer Projekt im Kopf herum, etwa eine Jacke für Blinde, die den Abstand zu Wänden und anderen Hinder­nissen durch Abstands­sen­soren in Kombi­na­tion mit Vibra­ti­ons­mo­toren „fühlbar“ macht. Außerdem kann sich Lampe vorstellen, mit ihrem Klavier­system Sommer-Work­shops für Kinder anzu­bieten … zum Beispiel in .

Fotos: TU München