Nachruf: Lorin Maazel

Zum Tod von Lorin Maazel: Mit gespreiztem kleinen Finger

von Axel Brüggemann

16. Juli 2014

Viel­leicht ist es die wissende Naivität, die ausge­macht hat, dieses kind­liche Staunen über die Einfach­heit einer angeb­lich so komplexen Welt. Das Wundern darüber, was die Leute eigent­lich meinen, wenn sie vom schweren Leben reden, von der kompli­zierten Musik oder der Schwie­rig­keit, Geld zu verdienen. Für Lorin Maazel schien all das selbst­ver­ständ­lich zu sein: große Kunst, großes Kassieren – und großes Leben!

Das letzte Mal als wir uns trafen, haben wir über die Anfänge seiner Karriere gespro­chen, über den kind­li­chen Wunder­geiger und das Diri­gier-Wunder­kind, das zum ersten Mal mit neun Jahren vor einem US-Orchester stand und nach­ahmte, was der gestrenge Fritz Reiner in Pitts­burgh einst vorge­macht hatte: die Energie von Diszi­plin, Musi­ka­lität und Leiden­schaft bis in die Finger­spitzen.

Ich wollte von Maazel wissen, wie es möglich ist, dass man weit­ge­hend ohne Lebens­er­fah­rung Themen wie Liebe, Verzweif­lung und Tod inter­pre­tieren kann. Und ich war erstaunt, dass er meine Frage zunächst gar nicht zu verstehen schien – weil ihm die Antwort so klar war: „Diese Gefühle sind exis­ten­zi­elle Grund­ge­fühle“, sagte er schließ­lich, „die in jedem Menschen ange­legt sind, mal unbe­wusst, wie bei vielen Kindern, mal bewusst, wie bei Erwach­senen, die sie erlebt haben. Aber wir müssen zum Glück nicht alles erleben, was wir inter­pre­tieren, es ist trotzdem in uns – als Ur-Gefühl.“

Es ist dieses Urver­trauen in den Menschen, mit dem sich Maazel so geschmeidig wie er diri­gierte durch die Welt der Musik bewegte. Zupa­ckend und klar auf der einen Seite, mit gespreiztem, kleinen Finger auf der anderen. Maazel hat gestritten, wo man ihm die Macht verwei­gerte, in , an der Deut­schen Oper, in an der Staats­oper und mit den Berliner Phil­har­mo­ni­kern, als sie zum Chef ernannten. Und er hat geliebt: die , die er als jüngster und als erster US-Diri­gent beehrte, seine Phil­har­mo­nics, die er im stolzen Alter von 70 über­nahm, und schließ­lich auch die Münchener Phil­har­mo­niker, die er – gegen ein statt­li­ches Salär – nach dem Abgang von vor dem Gesichts­ver­lust bewahrte.

Lorin Maazel ist mit US-ameri­ka­ni­scher Leich­tig­keit durch das Leben gegangen, mal Hand in Hand mit Pop-Klas­si­kern wie Andrea Boccelli, dann wieder auf Entde­ckungs­tour nach Musik­ni­schen mit den größten Orches­tern der Welt. Seine Diri­gate waren immer beson­ders, manche werden ewig bleiben: „Porgy und Bess“ etwa, seine Mendels­sohn-Sympho­nien mit den Berliner Phil­har­mo­ni­kern, Ravels-Opern­ein­akter, die er in Frank­reich ausge­graben hat und natür­lich sein „Otello“ mit Placido Domingo.

Nun ist Lorin Maazel mit 84 Jahren gestorben. Der Tod – wahr­schein­lich ist selbst er für Lorin Maazel auch nur eine weitere Selbst­ver­ständ­lich­keit.

Fotos: Molly Peterson